Sonntag, 28.04.2024 |Ein Erlebnisbericht von Claudia Lychacz
Pflegende Angehörige stehen oft vor großen Herausforderungen. Sie wollen dem Kind mit Behinderung gerecht werden. Sie wollen evtl. den Geschwisterkindern gerecht werden. Das Leben muss finanziert werden. Auch ein Leben als Ehepaar oder schlicht als erwachsene Person sollte ab und zu stattfinden. Und ein klein wenig Durchschnaufen und Kräfte sammeln wäre ja auch nicht ganz ungeschickt…
Doch genau dafür fehlen vielen pflegenden Angehörigen die Möglichkeiten. Zeit für sich zu haben. Zeit für Geschwisterkinder zu haben. Oder auch einfach einmal ein wenig Zeit zu haben, um an die Zeit zu denken. Und Atem zu schöpfen. Und nichts zu müssen.
Aber am besten mit dem Kind mit Behinderung zusammen. Oft ist das aus unterschiedlichen Gründen nicht möglich. Die Familienherberge Lebensweg ist eine Einrichtung, in der Familien mit Kindern mit Mehrfachbehinderung gemeinsam getrennt voneinander Urlaub machen können. Das klingt nach einem Widerspruch? Von wegen! Im Pflegebereich können bis zu 9 Kinder mit unterschiedlichem Pflegebedarf ein Zimmer bekommen.
Diese Zimmer wurden sogar teilweise von einer Künstlerin gestaltet. Die bunten Streifen an der Wand musste ich einfach fotografieren. Rund um die Uhr erhalten die Kinder die nötige Pflege, therapeutische Angebote und verbringen ihre Zeit. Die Eltern haben grundsätzlich Zugang zu dieser Ebene, obwohl sie mit den Geschwisterkindern auf einer anderen Ebene ihr Gastzimmer haben. Aber man ist ja getrennt gemeinsam da.
Vertrauen in die pflegenden Personen muss aufgebaut werden. Ein Prozess entsteht, der ganz individuell ist. Die Eltern haben Zeit für sich, für ihre weiteren Kinder, können sich im Elternwohnzimmer austauschen, in Ruhe ein Glas Wein oder eine Tasse Kaffee trinken, aktiv sein, abschalten, schlafen, kuscheln, Meditation… Ihr zu pflegendes Kind ist dabei nur ein Stockweit entfernt, immer erreichbar und kann vielleicht selbst mal ausschlafen oder eine Einheit im multisensorischen Raum genießen. Warum? Weil es ja auch der Urlaub des Kindes mit Behinderung ist! Die Mitarbeitenden, denen ich begegnet bin, strahlten für mich sehr viel Wärme, Stärke und Hingabe an Menschen und Pflege aus. Klar ist für mich geworden: Dies ist ein Ort für Urlaub für alle Gäste, egal, in welcher Etage sie nun sind.
Bei der Hausführung konnten wir in das Turnzimmer sehen, im multisensorischen Raum viel zu wenig Zeit verbringen für die schönen Farben und Klänge und im Atelier tätig werden. Hier können Eltern und Geschwister kreativ werden. Wer denkt, dazu kein Talent zu haben, sieht sich die Bilder des Fisches und der Spendensäule an. Diese Objekte sind in gemeinsamer Arbeit von vielen Menschen, die sich wohl nie begegnen werden, in vielen kleinen Schritten entstanden.
Ich zum Beispiel hatte die Aufgabe, Ton gleichmäßig auszurollen, damit eine andere Person kleine Kreise ausstechen kann. Am Ende sollen sie die Spendensäule schmücken. Ein kleiner Beitrag von mir, ohne den es aber nicht ginge. Und wie ihr auf dem Foto seht, auch als blinde Frau war ich engagiert mit dabei.
Kraft schöpfen, um weiter wirksam zu sein. Das könnte ein Motto der Familienherberge sein. Sehr bewegt hat mich, als die Mitarbeiterin im multisensorischen Raum zeigte, dass auch Kinder, die sich nicht bewegen können, die programmierten Settings wählen können. Mit Atmen in ein Mikrofon. „Ich atme und etwas verändert sich. Ich atme. Ich bin. Ich bewirke etwas.“ Wirksame Teilhabe durch pures Sein, ich sitze hier und bin schon wieder bewegt.
So viele Emotionen brauchen auch Nahrung. Und ja, ich muss es hier betonen, die schwäbischen Spätzle mit Linsen und Würstchen waren sehr lecker und die Portion reichlich. So gestärkt lauschte ich der Lesung von Frau Eckstein zu der Entstehung der Familienherberge. Schon allein das wäre eine eigene Doku-Serie wert. Begleitet wurde Frau Eckstein von einem Sänger mit wunderschönen Tönen und Texten zu Klavierklängen. Die Anspannung und der Druck, zu funktionieren, unter dem pflegende Angehörige stehen, war Thema eines Songs. Der Refrain begann mit der Überschrift hier: Es ist okay, du musst jetzt gar nichts. Und das hat mir tatsächlich die Tränen in die Augen getrieben. Die Tatsache, mit einer Tasse Kaffee auf der Terrasse zu sitzen und einfach nur die Natur zu genießen, sollte für alle eine Selbstverständlichkeit sein.
Wenn diese vermeintliche Selbstverständlichkeit für pflegende Angehörige ein Luxus ist, den sie in der Familienherberge seit Jahren wieder zum ersten Mal erleben, dann ist es diese Tatsache wert, dass sie mich emotional berührt.
Ich erfuhr, dass es in Deutschland ein vergleichbares Konzept nur noch ein einziges Mal gibt, in Hamburg. Die Plätze in Illingen sind auf Monate hinaus ausgebucht. Die Familien können bis zu 14 Tage Urlaub machen. Doch ohne ehrenamtliches Engagement geht es nicht. Menschen, die sich aktiv beteiligen wollen, werden gesucht. In der Hauswirtschaft zum Beispiel. Der Förderverein ist aktiv.
Auch prominente Menschen konnte die Familienherberge auf sich aufmerksam machen. Ein bis zwei Wochen Auszeit sind so wenig und gleichzeitig doch so viel. Wenn Inklusion gelingen soll, dann müssen die Menschen auch Kraft und Energie bekommen. Die Familienherberge Lebensweg habe ich 3,5 Stunden lang als Ort erlebt, wo Menschen temporär zu Hause sind. Zu Hause im Urlaub. Gemeinsam getrennt. Mit fast nichts, was muss, aber mit vielem was kann.
Ein Ort, an dem vieles für ein paar Tage vor allem das sein kann: Okay.
Es sollte dringend mehr solcher Orte geben.
Was haltet Ihr von der Idee der Familienherberge? Schreibt es uns unten in die Kommentare!
Text : Claudia Lychacz
Bilder: Alexander Lang / Claudia Lychacz / Homepage Familienherberge Lebensweg / Fotos von Christian Metzler Photography