Katrin Langensiepen von den Grünen ist die einzige weibliche Europaabgeordnete mit sichtbarer Behinderung. Sie engagiert sich für ein grünes, soziales und inklusives Europa. Mit der interparlamentarischen Arbeitsgruppe der EU fordert sie die Mitgliedstaaten auf, neue Alternativen und Lösungen zu finden, um Herausforderungen in diesen Bereichen anzugehen und zu minimieren.
Wie ist ihre Einschätzung: Sind Menschen mit Behinderungen einem erhöhten Risiko für eine Covid-19-Infektion ausgesetzt oder nicht?
Natürlich. Menschen mit Behinderung wurden disproportional von der Pandemie betroffen. Das liegt einerseits daran, dass viele Menschen mit Behinderung zur Risikogruppe gehören, andererseits erhöhen aber auch bestehende Diskriminierungsprobleme das Risiko dramatisch.
In den letzten Monaten wurde leider zu oft gegen die Menschenrechte von Menschen mit Behinderung verstoßen: Vielen wurde Zugang zu medizinischer Hilfe (Triage), wichtigen Hilfe- und Pflegeleistungen und Information verweigert.
Abgeschottetes Wohnen in Einrichtungen hatte verheerende Konsequenzen. Die Hälfe der Corona-Todesfälle ereigneten sich zu Beginn des Jahres in Einrichtungen, auch Einrichtungen für Menschen mit Behinderung. Würden wir in einer Welt leben, die tatsächlich der UN-Behindertenrechtskonvention entsprechen würde, und zwar in einer, wo selbständiges Leben für Menschen mit Behinderung in der Gemeinschaft durch entsprechend geförderte Hilfe-Leistungen und Assistenz möglich gemacht wird - hätte viel Leid verhindert werden können.
Deshalb fordere ich auch eine starke EU-Strategie zugunsten von Menschen mit Behinderung, die den EU-Mitgliedstaaten genug Druck macht, die UN-Konvention endlich umzusetzen, zu der sie sich vor 10 Jahren verpflichtet haben.
Die Covid-19-Pademie verursacht eine große Wirtschaftskrise, welche sich direkt oder indirekt auf das Sozialsystem auswirken wird. Stellt das Europäische Parlament Mittel bereit, um Menschen mit Behinderungen dahingehend zu unterstützen?
Ja, das tut die Europäische Union über unterschiedliche Fonds. Projekte und Organisationen für Menschen mit Behinderungen werden beispielsweise über den Europäischen Sozialfond und über den Fond für die am stärksten benachteiligten Personen gefördert. Letzterer wurden in den letzten Monaten aufgestockt und flexibilisiert. Im Sozialausschuss habe ich mich speziell dafür eingesetzt, dass bei der Verteilung der Mittel auf Nicht-Diskriminierung geachtet wird.
Das Einführen des Covid-19-Teststäbchens stellt für Menschen mit geistigen oder neurologischen Entwicklungsstörungen, wie Autismus, oft ein invasives und traumatisches Erlebnis dar. Gibt es hierzu eine Ihnen bekannte Alternative?
Hier bin ich keine Expertin. Ein erster wichtiger Schritt wäre allerdings schon, dass medizinisches Personal dafür sensibilisiert wird und zum richtigen Umgang mit Menschen mit kognitiven Behinderungen geschult werden. Das ist ein grundsätzliches Problem, das es schon vor Corona gab.
Gehörlose und schwerhörige Menschen benötigen alternative Kommunikationskanäle und Unterstützung, um Kommunikationsbarrieren zu überwinden, beispielsweise um an Corona- relevante Informationen zu kommen. Welche Möglichkeiten werden hierfür schon heute genutzt?
Es muss zur Normalität werden, dass relevante Presse und Regierungsmitteilungen von Gebärdensprachdolmetschung im Fernsehen begleitet wird. Das ist kein verrückter Sonderwunsch, sondern Menschenrecht. Ministerien und öffentliche Stellen müssen ebenfalls Beratungsservice für Gehörlose und Hörgeschädigte anbieten.
Während der ersten Infektionswelle mussten, Medienberichten zufolge, in Krankenhäusern Entscheidungen getroffen werden, wer an ein Beatmungssystem angeschlossen und somit gerettet werden soll und wer nicht (Triage): Unter anderem wurden Alte, Vorerkrankte sowie Menschen mit Behinderungen teilweise von den Intensivstationen ausgeschlossen. Was wird innerhalb der akuten zweiten Welle aktiv dafür getan, dass Selektionen generell vermieden werden können?
Ich war geschockt zu sehen, wie schnell in einer Krisensituation wieder die alte, unheimliche Vorstellung zum Vorschein gekommen ist, ein Leben von einem Menschen mit Behinderung sei weniger wert.
Wer wird beatmet, wer nicht?
In den Mitgliedstaaten, wo Krankenhäuser am Limit stehen sind Gebrechlichkeit, Alter, Lebenserwartung tatsächlich Kriterien. Kriterien, die indirekt viele Menschen mit Behinderung „aussortiert“ haben.
Natürlich muss alles dafür getan werden, dass es gar nicht erst zu überlasteten Krankenhäusern kommt. Über das Sofortinstrument der EU unterstützen Mitgliedstaaten sich gegenseitig, Patienten werden in Nachbarländer transferiert und Pfleger kommen als Verstärkung.
Doch die jahrelange Unterfinanzierung öffentlicher Gesundheit und Pflege wird man nicht in ein paar Monaten lösen können.
Jedes Leben ist gleich viel wert gerettet zu werden. Wenn es zu Triage kommt, darf nicht diskriminiert werden. In Deutschland klagen gerade einige Menschen mit Behinderung gegen die aktuellen fachgesellschaftlichen Empfehlungen zu Triage. Das ist richtig so.
Politik darf sich hier nicht feige raushalten und Menschenrechtsverletzungen hinnehmen.
Deshalb fordere ich im Europäischer Parlament auch einen Untersuchungsausschuss.
Um die sogenannten „Risikogruppen“, zu denen auch Menschen mit Behinderungen zählen, zu schützen, wurden viele Einrichtungen komplett wochenlang „unter Quarantäne gestellt“ und die dort lebenden Menschen somit von der Außenwelt isoliert. Was für Ansätze gibt es, um diese Menschen trotz der Pandemie an der Gemeinschaft teilhaben zu lassen?
Gleich zu Anfang der Pandemie habe ich in Deutschland unter dem Motto “Wir lassen uns nicht spalten“ eine Petition gegen die Isolation von Risikogruppen gestartet. Die Einstellung „Risikogruppen sollen zuhause bleiben“ ist von Grund auf falsch. Wenn die Gemeinschaft sich solidarisch an die AHA Regeln hält, hat man als Mensch aus einer der Risikogruppen auch weniger Angst rauszugehen. Mit durchdachte Teststrategien, geteilten, kleineren Gruppen auf der Arbeit, mehr öffentliche Verkehrsmittel oder auch gesonderten Einkaufszeiten für Risikogruppen noch weniger.
Gerade zu Beginn der Pandemie wurden viele Menschen in Einrichtungen gegen ihren Willen eingesperrt, was dramatische Folgen hatte.
In der zweiten Welle wurde nun daraus gelernt. Einrichtungen werden stärker mit Tests und Schutzmaterial unterstützt. Doch auch da gibt es noch Luft nach oben.
Die Zauberworte lauten Schutz und Solidarität.
Sie beziehen auf Ihrer Homepage dazu Stellung, dass Menschen mit Behinderungen während der Pandemiezeiten keinen Zugang zu Informationen, Hilfen und Dienstleistungen haben. Was halten Sie von der Idee eines Sozialen Netzwerkes, welches dem Austausch von Betroffenen und der Bereitstellung solcher Informationen dient?
Ich halte es für sehr wichtig, dass Menschen mit Behinderung zusammenhalten und für ihre Rechte kämpfen – sowohl online, oder auch im echten Leben. Immerhin lebt jeder fünfte Menschen in der EU mit einer Behinderung. Das ist eine ganze Menge, die gemeinsam viel verändern und sich gegenseitig unterstützen kann.
Danke Frau Langensiepen für dieses Interview
Das Interview führte Roxana Dorbrica für YouLife.Rocks und Diabled Magazin.Online
Verfügbar in Englisch auf Disabled Magazin
Comments
Als ich die Fragen zu diesem Artikel überarbeitet habe, kam mir wirklich so einiges in den Sinn. - wie zum Beispiel: Was wohl in einem Menschen vorgehen muss wenn er die Entscheidung in einer überfüllten Intensivstation fällen muss wer Hilfe bekommt oder nicht. Oder ist man wirklich in der Lage Unterschiede zu machen über Recht und Unrecht wenn alles um einen herum gerade zu auseinander fällt... Gehe ich dann in mich, denke ich Gott sei Dank bist Du nicht in dieser Situation. Irgendwie lebt es sich doch komfortabler wenn man zunächst einmal sich in den Mittelpunkt stellen kann - gewollt oder ungewollt...!