Spiegel im September 2016 – Auszug aus einem Bericht der mich sehr berührt hat…
Zu beginn der Paralympics. Für kurze Zeit stehen Athleten mit Beeinträchtigung im Mittelpunkt. Was aber passiert vor und nach den Spielen? Ein Report über den Behindertensport und seine Probleme.
Marianne Buggenhagen fährt in ihrem Rollstuhl durch das Bundesleistungszentrum Kienbaum. Sie rollt vorbei an Krafträumen, Sporthallen, Trainingsplätzen und den Pavillons, in denen Athleten untergebracht sind. In Kienbaum, etwa 40 Kilometer östlich von Berlin, trainieren Spitzensportler für Großereignisse. Buggenhagen hat sich dort auf die Paralympics vorbereitet. Am Mittwoch starten in Rio de Janeiro die siebten und letzten Sommerspiele der 63-Jährigen.
Buggenhagen hält auf einer offenen Terrasse, dahinter liegt der Liebenberger See. Sie hat kurze, weiße Haare, trägt sportliche Kleidung. Ihre weiße Jacke der Nationalmannschaft mit dem schwarzen Schriftzug “Germany” unterscheidet sich kaum von der Ausstattung der olympischen Athleten. Es ist ein Freitag, Anfang August. So kurz vor den Sommerspielen trainiert Buggenhagen zwölfmal pro Woche, zwei bis drei Stunden Kraft- und Wurfübungen pro Einheit.
Marianne Buggenhagen hat neun paralympische Goldmedaillen in den Disziplinen Diskuswurf, Kugelstoßen, Speerwurf und Mehrkampf sowie 23 WM- und acht EM-Titel gewonnen. In Rio startet sie im Diskuswurf, noch jetzt ist sie Weltranglistenerste ihrer Klasse. Buggenhagen ist eine Ausnahmeathletin. Ihre Begeisterung für den Sport ist deutlich zu spüren. Genauso zeigt sie jedoch ihren Frust, wenn sie über die Probleme spricht, die es heute noch gibt. Marianne Buggenhagen fühlt sich sehr oft als “Sportler zweiter Klasse”.
Alle zwei Jahre bekommt der Behindertensport in Deutschland kurzzeitig eine Bühne. Aber was passiert zwischen den Paralympics? Wie sieht der Alltag eines Behindertensportlers aus? Mit welchen Problemen haben paralympische Leistungssportler zu kämpfen? Gespräche mit Athleten zeigen: Nicht alle fühlen sich zweitklassig, aber es gibt viele Hürden, die Sportler ohne Beeinträchtigung so nicht kennen.
1. Leeres Konto, halbe Förderung
Im olympischen Sport gibt es derzeit eine Grundsatzdiskussion über die finanzielle Förderung von Athleten. Im Behindertensport wäre sie stärker nötig. Die Medaillenprämien durch die Deutsche Sporthilfe sind zwar seit den Winter-Paralympics 2014 in Sotschi genauso hoch wie im olympischen Sport, ausschließlich Olympiateilnehmer bekommen jedoch auch Prämien für eine Platzierung zwischen Rang vier und acht.
Ein Weltmeistertitel bringt einem Athleten ohne Behinderung in der Leichtathletik aktuell 60.000 Dollar (etwa 53.600 Euro) vom Veranstalter, ein behinderter Sportler bekommt für einen solchen Erfolg: nichts. In der monatlichen Grundförderung der Nationalkader durch die Sporthilfe erhalten Athleten ohne Behinderung doppelt so viel wie Sportler mit Behinderung. Auch in der Förderung der Spitzenathleten gibt es große Unterschiede.
Dabei haben viele Behindertensportler höhere Kosten. Vor zwei Jahren musste Buggenhagen allein für den Umbau ihres Wurfrollstuhls 2000 Euro zahlen. Vor den Sommerspielen 2008 in Peking stand sie aus Geldnot kurz davor, ihre Profikarriere abzubrechen. Und das, obwohl sie eine der besten Athletinnen ihres Landes ist. Erst seit zwei Jahren macht sie durch den Sport keinen Verlust mehr.
Friedhelm Julius Beucher, Präsident des Deutschen Behindertensportverbands (DBS), fordert bei der Förderung eine Nachbesserung, sonst verkomme die Angleichung der Medaillenprämien zu einer “Symbolhaltung”. Bei den “blanken Zahlen” sei man weit abgeschlagen, sagt der 70-Jährige.
Spezielle jährliche Förderung für rund 150 ausgewählte olympische sowie 25 ausgewählte paralympische Nachwuchsathleten. Dabei geht es auch um Karriereplanung und die duale Karriere zwischen Sport und schulischer beziehungsweise beruflicher Ausbildung.
2. Schlechte Trainer, wenig Auswahl
Mit gut 650.000 Mitgliedern ist der DBS der neuntgrößte Sportverband in Deutschland. Bei den Paralympics in Rio treten 155 Athleten in 22 Sportarten an. Der DBS hat aber nur sieben hauptberufliche Trainer, dazu 20 Übungsleiter, die auf Honorarbasis arbeiten.
Und vielen der Trainer fehlt es an Qualität. “Manchmal hat man den Eindruck, dass bei uns die Trainer landen, die im Bereich der Sportler ohne Behinderung nichts werden konnten”, sagt Manuela Schmermund, Athletensprecherin des DBS. Auch deshalb kommt es vor, dass sich deutsche Athleten ganz ohne Trainer auf die paralympischen Spiele vorbereitet haben.
Lehrgänge für die höchste Ausbildungsstufe, die A-Lizenz, gibt es im DBS nicht, dafür fehlen das Geld und die Zeit der Arbeitskräfte. Die Trainer werden also im olympischen Sport ausgebildet. Wichtige Kenntnisse über Behindertensport fehlen daher. “Du brauchst einen Trainer, der im Hinterkopf hat, dass einige Dinge nicht gehen”, sagt André Bienek, deutscher Nationalspieler im Rollstuhlbasketball.
3. Verwehrte Hallen, unbrauchbare Plätze
19 Olympiastützpunkte gibt es aktuell in Deutschland, sie alle sind eigentlich auch für den paralympischen Sport gedacht. Laut Angaben der Bunderegierung sind aber nur sieben von ihnen komplett barrierefrei. Auch darüber hinaus gibt es Hallen und Sportplätze, die gerade für Rollstuhlfahrer und Sehbehinderte nicht nutzbar oder schwer erreichbar sind. Dazu wurden Behindertensportler lange nicht ernst genommen.
Bereits 2007 war André Bienek, 29, Nationalspieler im Rollstuhlbasketball. Für den damals 20-Jährigen war es in seiner Heimatstadt Castrop-Rauxel in der Nähe von Dortmund nicht möglich, regelmäßige Hallenzeiten zu bekommen. “Dann habe ich eben draußen auf Körbe geworfen oder bin zwei Stunden mit dem Rollstuhl durch die Gegend gefahren, um Fitness zu trainieren”, sagt Bienek. Erst nach zwei Jahren konnte er seinen Sport so ausüben, wie es nötig war.
Viele Athleten sagen, dass die Akzeptanz von Behindertensport gestiegen sei, dennoch brauchen beeinträchtigte Sportler auch heute noch mehr Aufwand und Eigeninitiative, um einen geregelten Zugang zu Sportstätten zu bekommen.
4. Paralympics im Fokus, Alltag im Abseits
Bei den Paralympics steigt die Aufmerksamkeit stetig. 2012 zeigten 36 deutsche Fernsehsender insgesamt mehr als 83 Stunden von den Spielen in London. Den Paralympics in Rio werden allein ARD und ZDF insgesamt 75 Stunden Sendezeit im Fernsehen und in Livestreams widmen. Das ist im Vergleich zu den Olympischen Spielen zwar wenig, die Entwicklung ist dennoch positiv.
Deutsche TV-Berichterstattung zu den paralympischen Sommerspielen
Übertragungsstunden und erreichte Zuschauer
Zwischen den Paralympics sind behinderte Spitzensportler in den Medien und im öffentlichen Interesse jedoch kaum existent. “Ich fühle mich nicht wahrgenommen”, sagt Bienek. Mit dem Deutschen Meister und Pokalsieger Thuringia Bulls spielt er in der Rollstuhlbasketball-Bundesliga manchmal vor 1500 Zuschauern. Manchmal aber auch vor zehn. “Das ist enttäuschend. Wir spielen tollen Sport”, sagt Bienek. Dennoch fühlt er sich nicht zweitklassig. Er beschreibt Rollstuhlbasketball als den kleinen Bruder vom Fußgänger-Basketball.
2018 werden die Leichtathletik-EM der Behinderten und die Leichtathletik-EM der Sportler ohne Beeinträchtigung erstmals in derselben Stadt ausgetragen. Die Athleten ohne Behinderung treten im Berliner Olympiastadion an, die Behindertensportler im deutlich kleineren Friedrich-Ludwig-Jahn-Sportpark. Das ist sinnvoll, der Behindertensport würde die Ränge des Olympiastadions nicht füllen. Dennoch zeigt es den unterschiedlichen Stellenwert.
5. Alte Strukturen, komplexer Sport
Behindertensport ist kompliziert. Durch verschiedene Arten und Grade der Behinderung gibt es pro Sportart und Disziplin verschiedene Klassen. Dadurch steigt die generelle Anzahl an möglichen Medaillenentscheidungen bei einem Wettbewerb. Bei Olympia gibt es zwei 100-Meter-Finals, eins für Frauen, eins für Männer. Bei den Paralympics sind es 30.
Die Gesamtzahl an Medaillenentscheidungen bei einer Austragung der Paralympics ist begrenzt. In Rio liegt das Limit, auf das sich das Internationale Olympische Komitee (IOC) und das Internationale Paralympische Komitee (IPC) einigten, bei 526 (Olympia: 306). Um die Obergrenze nicht zu überschreiten, müssen einzelne Klassen gestrichen werden. Und das passiert auch kurzfristig. Bei den Paralympics 2012 wurde Buggenhagens Klasse im Diskuswurf kurz vor den Spielen aus dem Programm genommen. Sie hatte umsonst trainiert und war nur beim Kugelstoßen dabei.
Dass der Sport so komplex ist, macht ihn auch unattraktiver. In London wurden viele Leichtathletik-Klassen noch zusammengelegt. Ein kompliziertes Punktesystem ergab die Wertung. So gewann Buggenhagen im Kugelstoßen Silber, obwohl sie weiter als die Goldmedaillengewinnerin und kürzer als die Bronzemedaillengewinnerin gestoßen hatte. Für Laien war das schwer nachvollziehbar.
In Rio gibt es das System nicht mehr, jetzt zählt nur noch das reine Ergebnis. Damit wird es auch für die Zuschauer einfacher.
6. Menschliche Barrieren, fehlende Wertschätzung
“Es fehlt das Verständnis, dass wir keine Nischensportart sind”, sagt DBS-Chef Beucher. Diese mangelnde Wertschätzung zeigt sich auch im Alltag eines Menschen mit einer Beeinträchtigung. Wenn Buggenhagen einkaufen geht, wird ihre Freundin und nicht sie selbst gefragt, was Buggenhagen gerne haben möchte.
“Die menschlichen Barrieren sind oft noch vielfältiger als die baulichen”, sagt sie. Und dieses Denken übertrage sich auf den Sport: “Wir werden noch nicht so ernst genommen.”
Obwohl all diese Probleme den Behindertensport immer noch prägen, hat er sich auch weiterentwickelt. Neben der Anpassung der Medaillenprämien und der steigenden Fernsehübertragungszeiten von den Paralympics wird dies daran sichtbar, dass Verbände und Vereine im Behindertensport mittlerweile gute Sponsoren finden. Gesponserte Einzelathleten hingegen sind noch die große Ausnahme.
Symbolisch gibt es Annäherungen. Als das deutsche Olympiateam aus Rio zurückkehrte, überreichte es Vertretern der paralympischen Mannschaft die deutsche Fahne. Dazu die einheitliche Einkleidung, der gleiche Slogan “Wir für Deutschland”. Es sind Gesten, aber für DBS-Präsident Beucher zeigen sie, dass der Behindertensport auf dem richtigen Weg ist. Und auch Rollstuhlbasketballer Bienek sagt: “Ich sehe die Veränderungen, ich sehe die Unterstützung, die meine Mannschaft und ich bekommen. Das wird immer mehr.”
Noch positiver schätzt Thomas Steiger die Verhältnisse ein. Er ist Nationalspieler im Goalball, einer Sportart für Sehbehinderte. “Ich fühle mich genauso behandelt wie olympische Spieler auch”, sagt der 20-Jährige: “In der Gesellschaft wird man sicherlich als Sportler zweiter Klasse gesehen. Aber mir ist das egal.”
Im Sommer vergangenen Jahres ist Steiger mit der deutschen Mannschaft Jugendweltmeister geworden. Auch wenn er langfristig kein Geld mit dem Sport verdienen wird, sagt er: “Früher war es mein Hobby, jetzt ist es mein Beruf.”
Und trotz der vielen Nachteile scheint der paralympische Sport in einem Punkt sogar weiter zu sein als der olympische: beim Kampf gegen Doping. Das IPC hat den gesamten russischen Verband wegen des staatlichen Dopingsystems von der Teilnahme in Rio ausgeschlossen. Diese Entscheidung könnte dafür sorgen, dass der Behindertensport ernster genommen wird.
Dass sich der Behindertensport weiterentwickelt, hilft letztlich auch bei der Inklusion von Behinderten in die Gesellschaft. Denn für beeinträchtigte Athleten hat der Sport eine besondere Bedeutung: “Wenn ich keinen Sport mehr machen würde, dann hätte ich im Alltag viel größere Probleme”, sagt Buggenhagen. Auch ihr Mann Jörg sitzt im Rollstuhl. Ein normales Leben wäre für das Ehepaar ohne das jahrzehntelange Training kaum vorstellbar.
1992 saß Buggenhagen in ihrem Rollstuhl auf einem Steg zum Meer hinaus. Am Horizont die großen Dampfer, in der Hand eine Dose Bier, um den Hals ihre erste paralympische Medaille: Gold im Kugelstoßen in Barcelona. 24 Jahre ist das her. Viel hat sich seitdem geändert. Und trotzdem befindet sich der Behindertensport für Buggenhagen noch am Anfang: “Es ist ein Marathon und wir haben die ersten 1000 Meter geschafft”, sagt sie in Kienbaum.
Auf dem Tisch vor ihr liegt ein Untersetzer. “Rio 2016” steht darauf, darunter die olympischen Ringe, darüber ein geschwungenes Symbol: Eine gelbe, eine grüne und eine blaue abstrakte Figur halten sich an den Händen, es ist das Logo der Olympischen Spiele. Das Emblem der Paralympics fehlt.
Die Symbole ähneln sich. Aber sie sind nicht gleich.